Hier und Jetzt

Die öffentlichen Verkehrsmittel in Berlin waren im Streik. Ich lief von der Arbeit nach Hause zurück. Ich hatte eine längere Laufzeit in Kauf genommen und mir einen gemütlichen Weg ausgesucht, der durch die Parkanlagen der Stadt führte. Als ich etwa halbe Stunde gelaufen war, hörte ich plötzlich die Stimmen der Vögel – unzählige, verschiedene, zwitschernde Vogelstimmen. Und die Bäume waren bedeckt mit grünen, und manche mit gelben, manche mit roten Blättern.

Wo aber war ich? War ich tatsächlich die ganze Zeit dort gewesen? Mein Kopf war voll mit alltäglichen Sorgen, zornigen Rivalitäten, Plänen und Projekten. Ich hatte mich in meinen Kopf eingesperrt. Mein Geist sprach wie ein Idiot, der Selbstgespräche führt, laut schreiend an meinem Ohr, so daß ich vor lautem Geschrei weder das Zwitschern der Vögel, noch das Flüstern des Windes wahrgenommen hatte...

Es wird behauptet, die Tiere würden in ihrem Leben ihren Instinkten folgen, doch die Menschen ihren Fähigkeiten, zu denken und zu entscheiden. Die Fähigkeit zu denken ist zweifellos ein sehr nützliches Werkzeug, das unsere Lebenskraft auf ein mehrfaches steigert. Doch wir zahlen auch einen hohen Preis dafür: Des eigenen Ichs bewußt zu sein vereinsamt den Menschen. Wir vergessen, daß wir genauso ein Teil der Natur sind, wie der Stein auf dem Boden, wie das Flüstern des Windes zwischen den Blättern.

Der Geist, der eigentlich eine Brücke zwischen dem Menschen und der Natur sein sollte, wird zur Mauer, die diese beiden trennt.

So wie es aussieht, vertieft sich diese Vereinsamung mit dem Fortschreiten der Technik und der Entwicklung des rationellen Denkens. In dem Maße, wie ich meine Fähigkeit, zu messen, zu wiegen und danach zu entscheiden, voll mit meinem Ich identifiziere und mich meinen Emotionen, Intuitionen und Trieben entfremde, in dem Maße wächst auch jene Mauer zwischen mir und die Natur.

Ist diese Mauer unüberwindbar? Ist es nicht möglich, jenen Idioten, der an meinem Ohr ständig seine Selbstgespräche führt, zum Schweigen zu bringen, um die Natur hören, sehen, wahrnehmen zu können?

Es geht nicht darum, in einem Zustand des Halbschlafs die Fähigkeit des Denkens einzuschläfern. Viel mehr geht es darum, genau in diesem Moment, genau hier, die eigene Existenz inmitten der Natur, inmitten der zehntausend Wesen, die einen umgeben, voll wahrzunehmen und sie ausschließlich auszuleben.

So wie meine Geschichte in dem Stadtpark erlebt jeder von uns von Zeit zu Zeit solche intensive Momente. Das kommt unerwartet wie ein Hauch von Frühlingswind und verschwindet sofort wieder. Manchmal erscheint es da, wo ich von wundervollen Naturschönheiten voller Lebenskraft umgeben bin. Manchmal dort, wo ich mit großen drohenden Gefahren konfrontiert bin...

Es geht darum, dieses intensive Lebensgefühl einigermaßen stabiler und dauerhafter zu machen. Wer das erreicht, wird in unseren Kulturen als Heilige bezeichnet, im Wortschatz des Buddhismus als Erleuchtete oder Erwachte – oder mit dem Sanskrit–Wort, als Buddha.

Die Frage kann aber auch von einem anderem Standpunkt gesehen werden: Manche meinen, es gehe vielmehr darum, sich den Täuschungen der materiellen Welt zu schließen, die Augen tief in sich hinein, auf das göttliche Wesen in sich zuzuwenden.

Sind diese beiden Standpunkte so verschieden? Oder liegt die Quelle des Unterschieds vielleicht darin, daß wir die uns umgebende unteilbare Natur zu teilen versuchen, um sie zu verstehen?

Die Sufis sagen "Das Ganze und der Teil sind eins. in einem Tropfen Wasser ist das ganze All enthalten." Die endlose Natur, die mich umgibt und mein Ich sind nicht verschieden. Ich trage die ganze Welt in mir. Gehe ich tief in mein Herz hinein (wie in vielen Sufi–Traditionen, wie in Yoga), so finde ich dort die Welt, das Ganze, das Eins. Öffne ich mich rückhaltlos meiner Umgebung, dem Hier und Jetzt (wie in Zen und in Daoismus), so gelange ich dort in mein wahres Wesen.

Man fragt einen Zen–Meister "Was ist Erleuchtung?" Er antwortet: "Wenn ich hungrig bin, esse ich, wenn ich müde bin, schlafe ich." Man wendet ein: "Aber Meister, das tun wir doch alle!" "Nein," sagt der Meister, "Wenn ihr hungrig seid, setzt ihr euch an den Tisch; doch euer Geist ist mit Plänen und Projekten der Zukunft beschäftigt. Wenn ihr müde seid legt ihr euch hin; doch euer Geist ist mit Abrechnungen und Bewertungen der Vergangenheit beschäftigt."

Nach einer Meditation fragt mich der Meister: " Was ist Erleuchtung?" Da ich die Geschichte kenne, antworte ich: "Wenn ich hungrig bin, esse ich, wenn ich müde bin, schlafe ich." Er fragt weiter: "Bist du hungrig?" "Nein!" sage ich. "Bist du müde?" "Nein!" "Warum sagst du dann so was? Ich frage noch einmal: Was ist Erleuchtung?" "Du fragst, und ich antworte" sage ich. "Korrekt!" sagt der Meister...

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